Mit ziemlicher Sicherheit ist es im Schluefweg (bei historischen Vergleichen nennen wir die Arena so) zum letzten Mal am 1. April 1995 so wild, so drunter und drüber zu und her gegangen. Alles zwischen grenzenlosem Jubel und lähmendem Entsetzen. Am 1. April 1995 hat der EHC Kloten zum bisher letzten Mal den Titel auf eigenem Eis gewonnen. Im 4. Finalspiel gegen Zug mit einem 4:3(0:1, 2:2, 2:0)-Sieg. Nach einem 0:3-Rückstand in der 25. Minute. Roman Wäger hatte bei drei Treffern den Stock im Spiel.
Nun droht fast 30 Jahre später erneut der Untergang. Seit Menschengedenken hat es in einer Hockey-Arena nie mehr einen so jähen Sturz aus höchsten emotionalen Höhen in tiefste Verzweiflung gegeben: Nach 21:08 Minuten trifft der brave Pontus Aberg, der Ersatz für Miro Aaltonen, der sich in einem «Schneesturm» verirrt und inzwischen in Bern Unterschlupf gefunden hat, zum 3:0.
Mehr Schluefweg-Romantik geht nicht. Es ist vollbracht! Kloten hat das Hinspiel in Ambri am Samstag 5:4 gewonnen. Jetzt führen die Zürcher in diesem Play-Inn also zusammengerechnet 4:0! Nichts kann mehr passieren! Der Viertelfinal gegen die ZSC Lions – gegen die ZSC Lions!!! – ist gesichert! Schier grenzenloser Jubel. Der Schluefweg ein Tollhaus. 170 Sekunden später steht es 3:3. Ludovic Waeber wird vom Eis geholt und durch Sandro Zurkirchen ersetzt. Lähmendes Entsetzen. Beinahe gespenstische Ruhe.
Am Ende siegt Kloten 5:4. Es ist, als wollten die Hockey-Götter die Klotener für all die Dramen und Leiden, Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre inklusive Abstieg ein wenig entschädigen. Klotens Versöhnung mit den schwierigen letzten Jahren. Und Trainer Lauri Marjamäki hatte von den Gottheiten im Hockey-Himmel auch noch eine kleine Entschädigung zugute. Den Schwefelgeruch der Viertelfinal-Schmach gegen die Schweiz als Nationaltrainer bei der WM 2018 hat er in Finnland oben ja noch immer ein wenig in den Sonntagskleidern.
Jene, die im Schluefweg waren, werden noch nach Jahren in den Erinnerungen dieses Abends schwelgen. Kurz vor Mitternacht rappelt auf dem Nachhauseweg das Hosentelefon. Ein weitgereister NHL-Spieleragent meldet sich, der sich gewohnt ist, Millionenverträge in Amerika drüben auszuhandeln und dem NHL-Spektakel beizuwohnen. Er schwärmt von diesem Hockeyabend in den allerhöchsten Tönen. Es muss also auch an internationalen Ansprüchen gemessen ein aussergewöhnliches Schauspiel gewesen sein.
Das Spiel war eben ein unberechenbares Spiel auf einer rutschigen Unterlage. Kein in Schablonen gefangenes Eisschach, das langweilige Puritaner wie TV-Briefkastenonkel Ueli Schwarz rühmen und den echten Fan langweilt. Zwei Teams auf den Zehenspitzen, jede Gelegenheit zur Vorwärtsbewegung nutzend. Und zur richtigen Mischung gehört ein Bösewicht: Der leidenschaftliche Chris DiDomenico hat diese Rolle perfekt gespielt. Im Guten (ein Assist) wie im weniger Guten (Minus-2-Bilanz).
Kann Kloten nun die ZSC Lions im Viertelfinal überraschen? Statistisch lautet die Antwort: Ja, warum nicht? Kloten hat fünf der letzten acht Begegnungen gegen den Lokalrivalen gewonnen. Alle in der Qualifikation. Aber die bange Frage ist die: Sind die Klotener nach so viel Emotionen dazu imstande, in zwei Tagen die Batterien nachzuladen und die Dinge taktisch wieder zu ordnen? Denn ohne taktische Ordnung im Sinne von Ueli Schwarz wird es gegen den Sieger der Champions League nicht funktionieren. Es ist nicht in erster Linie eine Frage des Talents oder der Energie. Es ist eine «Kopfsache». Zwei so emotionale Spiele in vier Tagen sind fast nicht möglich.
Ein Mann sass nachdenklich oben auf der Tribüne. Gaëtan Voisard. Einst Verteidiger-Haudegen, heute Spieleragent. Er steht vor dem verrücktesten Fall seiner langjährigen Tätigkeit. Das kommt so: Ein Geheimnis dieses kleinen Schluefweg-Hockeywunders sind zwei gleichwertige Torhüter mit Schweizer Pass. Es ist fast unmöglich, dass zwei Goalies sich die Arbeit teilen, dabei glücklich sind und auch ganz tief im Herzen, dort wo weder der Sportchef noch der Coach oder ein Chronist hineinzusehen vermögen, keinerlei Groll gegeneinander hegen.
Trainer Lauri Marjamäki hat dieses Wunder vollbracht. Ludovic Waeber (28) und Sandro Zurkirchen (35) bilden das beste Goalie-Duo der Liga. Die beiden haben sich die Arbeit während der Qualifikation geteilt, Ludovic Waeber hat 28 und Sandro Zurkirchen 24 Partien bestritten. Und dazu passt: Nun haben die beiden einander auch beim bisherigen Saisonhöhepunkt perfekt ergänzt: Nach dem 3:3 – ein Tor unhaltbar, eines ein wenig und noch eines ganz fest haltbar – holt der Trainer Ludovic Waeber in der 23. Minute vom Eis. Nun wird Sandro Zurkirchen mit der ihm eigenen stoischen Ruhe Klotens Rückhalt in den aufregendsten, dramatischsten und heikelsten 37 Minuten der Saison. Er lässt nur noch einen Treffer zu.
Ohne Sandro Zurkirchen hätte Kloten das Play-In kaum erreicht. Ohne Sandro Zurkirchen hätte Kloten das Play-In gegen Ambri wahrscheinlich nicht gewonnen. Er hatte bereits während der Qualifikation die besseren Statistiken. Auf der ganzen Welt würden Sportchefs, Trainer und ihre Assistenten, Verwaltungsräte, Präsidenten und Sponsoren den Hockeygöttern auf Knien für so ein Goalie-Duo danken. Aber Kloten verlängert den Vertrag mit Sandro Zurkirchen nicht mehr. Nächste Saison werden Davide Fadani (24) und Ewan Huet (20), der Sohn der Goalie-Legende Cristobal Huet, in Kloten Ludovic Waeber entlasten.
Noch nie hat ein Sportchef ohne jede Not auf ein so perfektes Goalie-Duo verzichtet. Ricardo Schödler hat in seinem ersten Amtsjahr alles richtig gemacht. Ist er nun übermütig geworden? Time will tell. Zu Gottfried Kellers Zeiten haben die Bauern im Tal der Glatt gemahnt: Wenn die Freude in der Stube (im Stadion) ist, lauert die Sorge im Flur.
Gaëtan Voisard ist der Agent sowohl von Ludovic Waeber als auch von Sandro Zurkirchen. Er betont mit ehrlicher Überzeugung immer wieder, wie wichtig es sei, dass junge Goalies eine Chance bekommen. Und nun, da in Kloten nächste Saison gleich zwei Talente auf Kosten eines 35-jährigen Veteranen ihre Chance bekommen, mag er nicht vorbehaltlos rühmen.
Sandro Zurkirchen nimmt seinen bevorstehenden Abschied aus Kloten mit Gelassenheit. Er vergisst auch nicht, Ludovic Waeber zu rühmen: «Er hat uns im ersten Drittel im Spiel gehalten.» Und gibt die Blumen für seinen grandiosen Auftritt weiter: «Die Mannschaft hat sich nach dem 3:3 gefangen und noch eine Schippe draufgelegt.» So funktioniert das eben mit einem Torhüter, der seine Karriere mit den ganz grossen Verträgen noch vor sich hat (Waeber), und einem, der mit der Würde eines Granden ins Abendrot seiner Karriere reitet (Zurkirchen).
Klotens verkannter Held sagt, er werde sich im Sommer fit halten. Er habe in den letzten Jahren unter Anleitung eines Fitness-Coaches das Sommertraining jeweils selbständig gemacht und sei inzwischen in einer besseren physischen Verfassung als mit 25. Er kenne genug Sportchefs, um im August die Möglichkeit zum Eistraining zu erhalten.
Er gibt nicht auf. Mit ziemlicher Sicherheit wird er schon im Oktober irgendwo eine neue Chance bekommen. Wer hätte denn gedacht, dass Dominic Nyffeler ein paar Monate nach seinem Rücktritt zu einem Comeback bei einem der führenden Klubs Europas – bei Lugano – kommen würde? Eben. Sogar Gaëtan Voisard sieht die Angelegenheit optimistisch und sagt: «Man weiss nie.» Was für einmal mehr ist als einfach ein Spruch.
Da hat der Chronist doch noch eine Frage an Lauri Marjamäki: Nun da Ludovic Waeber ein Lottergoalie und Sandro Zurkirchen ein Held war, welchen Torhüter setzt er am Samstag in Zürich ein? Er schaut fast ein wenig ungläubig drein und sagt: «Sie glauben wohl doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen das verrate?» – «Nein, natürlich nicht.»
PS: Es folgt noch ein kleines Zwiegespräch zwischen Klotens Trainer und dem Chronisten: «Sie haben uns so eine Saison nicht zugetraut, nicht wahr?» – «Nein, ich habe Kloten vor der Saison auf Platz 14 gesetzt.» – «Ja, ja, das habe ich gehört.» – «Wissen Sie den Grund für diese Prognose?» – «Nein.» – «Weil es mir immer ein Bedürfnis ist, den Coaches zu helfen. Mit dieser Prognose habe ich versucht, Druck auf Sie wegzunehmen.» – «Einen schönen Abend noch.»
Blöde Ausrede bezüglich der 14. Platzierung.